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Eine Stadt wird bunt – als die Buchstaben in Hamburg laufen lernten

4. April 2023

Hamburgs Graffiti – die Geschichte der ersten Generation.

Im großen Vortragssaal des Museums haben sich Hip-Hop Veteranen, Interessierte Besucher*innen aus der vorausgegangenen Führung, eine Fotografin und ein Technikteam eingefunden.

Sali Landricina zeigt eine Auswahl seiner frühen Graffiti, die er als Sota, Cone, Jerk oder ganz zu Beginn als Look 132, Anfang der 1980er Jahre in Hamburg malt. Die Veranstaltung wird in Bild und Ton mitgeschnitten. Auf einer großen Leinwand steht unter dem Logo des Museums und der Ausstellung die erste Folie einer Slideshow. Es hat etwas von einer Unterrichtsstunde im Hörsaal. In der vorletzten Reihe dicht gedrängt sitzen ein paar stadtbekannte B-Boys, Maler und Medienmacher, um sich eine Dia Show ihrer Jugend anzusehen.

Gesichter einer Generation von Graffitiwritern und HipHop Aktivist*innen, die – angesteckt von den Bildern aus dem Buch Subway Art – eine Kultur neu erfanden. Eine Kultur, die weltweit Schule machen wird. Sie hat nun wiederum ein Buch erschaffen, aus dem die nächsten Generationen Inspiration schöpfen können. Viele von ihnen sind bereits in den 50ern. Hinter mir kritzelt der Sohn eines Bekannten seine Hausaufgaben in sein Heft, während sein Vater den Ton der Podiumsdiskussion am Laptop aufzeichnet. Die Geschichte geht weiter.

Das Monument einer Jugendkultur der 80er und 90er Jahre

Dis Stadt als Spielplatz: S-Bahn Surfen und Inside Tags
Bild: Eine Stadt wird bunt.

Am Donnerstag, den 30.3.2023 haben sich rund 100 Menschen im Museum für Hamburgische Geschichte eingefunden. Auf dem Plan steht eine Kuratoren-Führung durch die Ausstellung “Eine Stadt wird bunt. Hamburg Graffiti History 1980-1999”. Die Ausstellung zur Graffitikultur in Hamburg wird hier noch bis Juli 2023 ausgestellt.

Es beginnt mit Bildern aus den 1970 er Jahren, in denen gerade die ersten gesprühten Parolen auftauchen. Zu dieser Zeit ist die Stadt noch fast unberührt. Es sei das Ziel gewesen, Bilder zu sammeln, die die Zeit zwischen 1980 und 1999 dokumentieren, sagt Kurator Oliver „Davis“ Nebel. Hier ende die Ära der „analogen Zeit“ und damit hätten sie auch schon genug zu tun gehabt.

Eines der frühesten dokumentierten OZ Smileys zu Beginn der 1980er Jahre
Bild: Eine Stadt wird bunt.

Sechs Jahre arbeiteten Oliver Nebel, Frank Petering, Mirko Reisser und Andreas Timm daran, alte Fotoalben und Schuhkartons mit Negativen zu durchforsten. Zunächst entsteht dadurch der Bildband „Eine Stadt wird bunt“ – als Crowdfunding-Projekt gestartet versucht es etwas, das laut Renè Kaestner vom „I LOVE GRAFFITI PODCAST“ so noch nicht da war: Eine Chronik der Stadt zu schreiben. Das erklärt Kaestner in der Diskussion mit Landricina.

Tatsächlich ist daraus mehr geworden. Denn es ist mit mehr als 40.000 gesammelten Fotos nicht nur das Zeitdokument der Geschichte von Graffiti in Hamburg, sondern auch das Monument einer Jugendkultur der 80er und 90er Jahre. Ergänzt durch Zeitdokumente wie zum Beispiel ein komplett rekonstruiertes Jugendzimmer mit Spielkonsole oder einer Kassettensammlung erzählt diese Ausstellung die Geschichte weiter, die zwischen der zweidimensionalen Welt alter Fotos steckt. Sneakers, Goldketten, Skibrillen, Baseball Caps, Plattensammlungen und Sprühdosen, wie auch bemalte Jeansjacken mit Backpieces sind zu sehen.

Was die Ausstellung besonders macht ist, neben der Tatsache, dass sie im Stadtmuseum Hamburgs stattfindet, die mit Hingabe regelmäßig wiederkehrende Kuratoren-Führung am Donnerstag und die unglaubliche Anzahl von Events.

Davis hat es an diesem Donnerstagabend leicht. Er führt als Kurator durch das Leben vieler Anwesender im Museum für Hamburgische Geschichte. Routiniert empfängt er die Wartenden in der Eingangshalle des Museums und führt sie nach einer kurzen Einleitung an einer Karte des U-Bahnsystems von Hamburg in die Ausstellung.

Davis erklärt das Dosensortiment eines Farbenmarktes der 80er Jahre
Foto: Jacob Paulsen

An einem Punkt sagt er zu einem der umstehenden, „Du, stell dich mal bitte dahin“ – und zu den Zuhörenden gewandt: „Das sind nämlich seine Plattenspieler“. Unter dem Bogen des Schriftzugs „Powerhouse“ sind zwei Technics Plattenspieler und ein Mischpult unter einer Vitrine zu sehen.

Der Besitzer der Turntables ist Boogiedown Base – einer der bekannten DJs der Hip-Hop Szene in Hamburg. Und er ist nicht die einzige Legende, die an diesem Abend Teil der Besuchergruppe ist. B-Boys, Graffitilegenden, aber auch Wegbegleiter, finden sich hier in einem Klassentreffen der besonderen Art zusammen.

Das Powerhouse war eine Institution auf St. Pauli mehr zum einstmaligen Hotspot der Hip-Hop Szene
Foto: Jacob Paulsen

Die Trainingsjacke von Breakdance Legende Sonny Tee hängt direkt hinter dem Mischpult. Hände werden abgeklatscht, Base nimmt Sonny mit um die Ecke und will ihm ein paar alte Fotos zeigen. Er ist selbst mit einer Analogkamera angetreten, um ein paar Fotos zu machen. Die beiden kennen sich seit 35 Jahren, kommentiert Base später das Foto.

An dieser Stelle wird klar, dass hier etwas Einmaliges gelungen ist. Wie sonst erklärt es sich, dass an diesem Abend etwa 100 Menschen an Davis‘ Lippen hängen. Darunter einige, die das was er den Besucher*innen der Ausstellung erklärt, selbst miterlebt haben. Sie kennen die Geschichte, die er zu den Exponaten und den Bildern der Ausstellung erzählt, denn es ist ihre eigene.

Sonny Tee und Boogiedown Base
Foto: Jacob Paulsen

Davis erklärt anhand einer Tafel mit den ersten Hip-Hop Magazinen Hamburgs, wie er am Kopiertisch das Magazin „Beastie Boys“ aus selbstgetippten Schreibmaschinentexten und kopierten Graffitifotos erstellt hat. Er erklärt, er sei nicht der einzige gewesen und ruft den Namen des (ebenfalls anwesenden) Gründers der legendären „BACKSPIN“ auf. Es wird dem jungen Davis viele Jahre sein Hobby finanzieren und zu seinem Beruf werden. Es wird eines der zwei einflussreichsten Hip-Hop Magazine Deutschlands werden.

Zwei, die auszogen, die Stadt zu verschönern

Im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit René Kaestner zeigt Sali den seinen Blick auf den Beginn der Sprüherszene in Hamburg in den frühen 1980er Jahren. 1983 sind die Wände in deutschen Großstädten noch unberührt von Graffiti. Am Beispiel einer Wand an der S-Bahnlinie nähe Diebsteich zeigt er, wie er gemeinsam mit seinem Freund „Zack“ die Wand entjungferten und gemeinsam als TMC die Stadt für sich eroberten. Gleich zu Beginn erklärt er, dass er anlässlich der Buchrecherche erstaunt gewesen sei, wie viel Material noch in verborgenen Winkeln bei ihm zu finden gewesen sei. „Ich hatte halt eine Kiste mit allen Graffitisachen inklusive Fotos.. die Sachen hatte ich auf dem Zettel.. -aber die mehr als 3000 unentwickelten Negative, die hatte ich nicht mehr auf dem Zettel“.

Piece an der S Bahnlinie (Zack und Cone) Zwei Freunde die loszogen, um die Stadt zu erobern
Bild: Sali Landricina

Bei einigen Anekdoten geht ein Lachen durch die Zuhörer*innen, die die Bilder dieses frühen Aufkeimens der Graffitikultur fast allesamt miterlebt haben. Einmal gibt es einen Zwischenruf von jemandem, der in einer Geschichte erwähnt wird. Aber die meiste Zeit wird andächtig gelauscht. Diese Reaktivierung dieser frühen Garde der Jugendkultur ist wirklich etwas Magisches. Nicht nur ist es Geschichte zum Anfassen – es sind Geschichten, die die Protagonisten selbst aktiv erzählen.

Sali erzählt die Geschichte von zwei Jungs, die loszogen um die Stadt zu erobern. Der eine zeigte es dem anderen und so fanden sie nach und nach heraus, dass sie nicht alleine waren mit ihrer Begeisterung für die Buchstaben aus der Dose. Nach und nach wächst eine Szene zusammen, die zunächst relativ unbehelligt den Stadtraum erobert.

ALL BY MYSELF – Look 132 (1983)
Bild: Sali Landricina

Man schaut auf das erste “Look 132” Piece von Sali, dann die Weiterentwicklung des Styles und sieht buchstäblich dabei zu, wie die Buchstaben laufen lernen. Aus ungelenken Buchstaben auf der Garagenwand um die Ecke werden zwei Graffitikings der S-Bahnlinie. Zu Beginn der 90er Jahre verläuft sich die Aktivität der beiden. Sie haben durch ihre Werke viele der vorbeifahrenden Jugendlichen inspiriert – darunter auch Daim aka Mirko Reisser – einen der Kuratoren der Ausstellung und Initiator des Buches “Eine Stadt wird bunt”.

Bild: Sali Landricina
RE:PAINTED - RE:FRAMED